Wie ein Manager Erfüllung in Sterbebegleitung findet | chrismon

2022-08-20 12:40:47 By : Mr. Yong Han

Ehrenamt - Die letzte Wache

Dr. B. schläft. Der Atem geht ruhig, kaum merklich hebt und senkt sich der Brustkorb. Nur der Kopf des alten Mannes ist zu sehen, ein Stück des Flügelhemds und seine rechte Hand voller Altersflecken. Ansonsten scheint da nicht mehr viel Mensch unter der rot-weiß gestreiften Krankenbettdecke zu sein. Dr. B. isst und trinkt nicht mehr.

Charlie Brändle setzt sich auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand, gleich ­neben dem Tischchen mit der Salzlampe, und betrachtet den Mann im Bett. Still ist es im Zimmer. Nur das Rauschen der Heizung ist zu hören, manchmal dringt Gemurmel durch die Tür oder das Geräusch der Rollen, auf denen die Nachtschwester ihr Wägelchen über die Gänge schiebt. Hinter den grauen Vorhängen leuchten die Lichter vom Stuttgarter Nobelviertel Haigst herunter wie ein Versprechen in dunkler Nacht.

Charlie Brändle und der 87-jährige Dr. B. kennen sich nicht, können einander nicht mehr kennenlernen, aber sie werden die nächs­ten Stunden miteinander verbringen, von denen keiner weiß, was in ihnen passiert.

Etwa ein- bis zweimal pro Monat kommt Brändle, 56, ins Stuttgarter Marienhospital. Abends, wenn das hektische Krankenhaustreiben nach und nach in jene Nachtruhe übergeht, die in öffentlichen Gebäuden etwas sehr Einsames haben kann, etwas Beklemmendes und auch ein bisschen Unheimliches. Brändle ist eine Sitzwache. Man sagt auch: ­ Er hält Sitzwache. Und dass Person und Aufgabe in einem Wort zusammenfallen, sagt vielleicht schon viel über den Charakter dieses Ehrenamtes aus.

Erst im Lauf des Tages erfährt Brändle, auf welcher Station und in wessen Zimmer er sein wird. Die Informationen hat er auf einem gelben Post-it-Zettel geschrieben, der auf seinem Taschenkalender klebt. Leben und Leiden im 76-mal-127-Millimeter-Format: Palliativstation V5, Dr. B., 87 Jahre alt, Herzinfarkt, Demenz, hört schlecht, schmerz­geplagt. Den Doktortitel hat Brändle notiert, weil er vielleicht danach fragen wollte. Es war nicht klar, dass der alte Mann in einen Schlaf aus Schmerzmitteln gesunken sein würde.

Seit 32 Jahren gibt es die Sitzwachen im Marienhospital. In den Nächten sollen sie bei Menschen sein, die auf der Endstrecke des Lebens angekommen sind und niemanden haben, der sie begleitet, oder deren Angehörige eine Pause brauchen. Dr. B. zum Beispiel hat keine Familie. Ein gleichaltriger Freund besucht ihn ab und zu, heute war ein Neffe von weit her da.

Brändle ist in der Gruppe der etwa 40 Sitzwachen ein Exot. Die meisten sind im Ruhe- stand oder arbeiten in Teilzeit, wenn sie den fünfmonatigen Vorbereitungskurs machen. Der gebürtige Esslinger hingegen, der 2014 dazukam, steht mitten im prallen Arbeitsleben. Er ist bei einem mittelständischen Unter­nehmen angestellt, das Spielsachen aus Holz herstellt, hat sechs Leute unter sich. Auch in seiner Freizeit ist Brändle fast jeden Abend verplant. Er hat einen rührigen Freundeskreis und ein Patenkind, er geht essen, zum Yoga oder zum Sport. Er ist keiner, der sich ehrenamtlich engagiert, weil er eine Aufgabe braucht.

Das Thema Hospizarbeit habe ihn schon ­lange interessiert, sagt Brändle. Die Trauer kam früh in seine Familie, mit nur 18 ­Jahren verunglückte sein Neffe, da war Brändle Anfang 30. Seither sei der Tod für ihn ein Thema, sagt er. Über eine Zeitungsanzeige wurde er auf die Sitzwachen aufmerksam und die Möglichkeit, immer dann an einem Krankenbett zu sein, wenn er es einrichten kann: nur alle paar Wochen, nur in der ersten Abendschicht, vier Stunden frühestens ab 19 Uhr und ­spätestens bis 1 Uhr nachts, weil er morgens um neun wieder im Büro sein muss.

Brändle – Jeans, T-Shirt, Turnschuhe – ist jemand, der die Dinge gut durchdenkt. Für ­seine Stunden im Krankenhaus hat er sich Rituale geschaffen: parken in der ­Tiefgarage, Ankunft in der Eingangshalle, damit er sich an der Info noch eine Auslasskarte holen kann. Dann eine Kerze entzünden im Halb­rund der Marienkapelle. Wenn er die Station betritt, trägt er über der Schulter eine Stoff­tasche mit all den Dingen, die er am Krankenbett brauchen könnte: mit dem Namensschild und dem Thriller, mit der Wasserflasche und dem Knoppers, das er doch nie isst. Mit dem Tagebuch, in dem er die Nacht notiert.

60 Sitzwachen sind in dem schwarzen Büchlein verzeichnet, ganz selten saß er mehrmals am gleichen Bett. Es waren 57 Menschen, von denen die allermeisten nicht mehr am Leben sind. Mal hat Brändle eine Seite seines Tagebuchs beschrieben, mal zwei oder drei. Wenn er sie liest, sind die Gesichter wieder da: die Frau im Rollstuhl mit Lungenkrebs, die eine Zigarette rauchen wollte, und die Brändle dafür ins Freie schob. Die junge Patientin mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), die nicht mehr sprechen konnte und Brändle per Textnachricht bat, ihr Arme und Hände zu massieren.

Da war der ruhelose Demenzkranke, der sich entspannte, als Charlie Brändle seinen Rücken streichelte. Da waren die vielen Patien­ten, die nicht mehr trinken konnten und deren Lippen er mit einem feuchtsüßen Wattebausch betupft hat. Und da ist Dr. B., ein Eintrag, eine Erinnerung. Einer, der gespürt hat – davon ist Brändle überzeugt –, dass er nicht alleine war.

Früher habe er Angst vor dem Sterben gehabt, sagt Brändle, und dass die Sitzwachen vielleicht der Versuch waren, damit umzugehen. Das selbstverständliche Zusammensein mit den Schwerkranken, bei dem auch mal gelacht, ein letzter Wunsch nach einem Glas Wein mit Erbsensuppe erfüllt wird, habe ihm die Angst genommen.

Auch davor, was er macht, wenn ein ­Patient in seiner Schicht sterben sollte, was bisher nicht passiert ist. "Im Film hat mal jemand das Fenster aufgemacht, damit die Seele raus kann. Aber längst nicht auf allen Stationen kann man die Krankenhausfenster öffnen."

Das Ehrenamt ist für Brändle auch ein Gegengewicht zur Zahlenfixierung der freien Wirtschaft, in der es viel um ­Kosteneffizienz gehe. Brändle macht seine Arbeit gern, 35 ­Jahren war er bei einer amerikanischen ­Firma. ­Früher saß er manchmal nach einer Nacht im Krankenhaus morgens im Büro oder er flog nach Rumänien und fand das alles ein ­bisschen absurd.

Das Ehrenamt funktioniere eben nicht ohne einen Job, der Geld bringe. Immerhin bot sich Brändle vor zwei Jahren die Gelegenheit, beim Job etwas runterzufahren, als sein amerikanischer Arbeitgeber den Standort in Deutschland schloss.

Zehn Uhr. Die Nachtschwester kommt ins Zimmer. Dr. B. stöhnt auf, als sie ein Pflaster wechselt. Ganz kurz setzt sein Atem aus, dann hebt und senkt sich der Brustkorb wieder. Seit zwei Wochen ist der 87-Jährige im Krankenhaus. Erst lag er auf der Inneren, seit heute auf der Palliativstation. 20 Betten gibt es hier für Menschen, die nicht mehr gesund werden. Die Palliativstation des Marienhospitals ist die größte in Baden-Württemberg. Viele ruhelose Nächte hat Dr. B. gehabt, vor zwei Tagen lief er noch mit dem Rollator unruhig auf und ab. Aber in den kommenden Stunden wird er nicht aufwachen, sagt die Schwester. In solch ruhigen Nächten liest Brändle in einem Buch, damit er auch mal ­"abschalten kann", wie er sagt. Manchmal hält er ­eine Hand, manchmal betrachtet er nur den ­Menschen vor sich. Er versucht, sich aus den wenigen Informationen ein Leben ­zusammenzuspinnen: Wer war Dr. B.? Was hat er gearbeitet? Wen hat er geliebt? ­Welche Geschichte wird mit ihm sterben, welche Träume, welches Wissen, welche guten und schlechten Tage?

Manchmal, sagt Brändle, sehe er auch sich selbst in dem Bett dort liegen und ­frage sich, wer wohl an seiner Seite sein wird, wenn es einmal so weit ist. Brändle, der außerdem seit zwölf Jahren Senioren im Altersheim besucht, hört oft von Bekannten, wie bewundernswert sein Engagement sei. "Das kannst du auch", antwortet er dann. Aber bis auf einen Freund hat es ihm noch keiner nachgemacht. Natürlich weiß Brändle, dass er sich die Zeit als derzeit Alleinstehender einfacher einteilen kann als Menschen mit Familie. Aber er ist auch überzeugt: "Ein paar Stunden alle paar Wochen – das kann sich jeder einrichten." Und in die Aufgabe, ­ da wachse man hinein. Brändle ist Prag­matiker, und er ist Optimist: Wenn sich ­jeder nur ein bisschen engagieren würde, dann ­wäre doch vieles besser, sagt er.

Lisa Welzhofer Lisa Welzhofer hat bei dieser ­Recherche vielleicht das erste Mal verstanden, was es bedeutet, dass der Tod ­seinen Schrecken verliert, wenn man ihn in sein Leben holt.Yvonne Seidel Yvonne Seidel, Fotografin, wurde bewusst, wie viele alte Menschen keine Ange­hö­rigen haben, und wie sehr sie Nähe und Menschlichkeit gerade am ­Lebensende brauchen.

Am Ende der Schicht wird Brändle durch die spärlich beleuchteten Krankenhausflure zum Parkhaus gehen, vorbei an der Kapelle, durch die leere Eingangshalle, die sich ein paar Stunden später wieder mit Leben ­füllen wird. Über der Schulter die Stofftasche, in der die Milch-Haselnuss-Schnitte wieder einmal ­unangetastet liegt. Zu Hause wird er auf ­seinem Cannstatter Balkon eine Zigarette ­rauchen und einen Ramazzotti trinken, auch das sind Rituale.

Dr. B. wird weiterschlafen. Und drei Tage später wird er nicht mehr aufwachen.

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I. Herrmann | vor 5 Tagen 4 Stunden Permanenter Link

Ein sehr berührender Beitrag, den ich mit jeder Faser meines Herzens nachempfinden kann. Es gibt für jeden Menschen die Möglichkeit seinen Mitmenschen zu helfen, aber leider auch viele Begründungen es nicht zu tun. Vielleicht ist es aber auch die Angst vor Themen wie Krankheit, Abschied und Tod. Aus meiner eigenen Depressionserfahrung heraus engagiere ich mich im Bündnis gegen Depressionen sehr für die Prävention und Aufklärung, denn auch bei diesem Thema existiert noch viel Unwissen, aber auch ein Abtun als Schwäche.